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Atemausbreitung in der osteopathischen Therapie

von Margarete Keller D.O.

Das Phänomen der Atemausbreitung ist seit den Anfängen der Osteopathie grundsätzlich bekannt und in gewisser Weise selbstverständlicher Bestandteil jeder Behandlung. In der osteopathischen Ausbildung wird das Thema jedoch im Unterschied zu anderen Körperrhythmen kaum expliziert thematisiert.

In einem Osteopathenteam haben wir uns seit Jahren theoretisch und praktisch mit der Atemausbreitung (AAB) auseinandergesetzt. Wir haben die AAB explizit in das osteopathische Testprotokoll und in die osteopathische Therapie integriert. So konnten wir in der Praxis feststellen, wie wirksam es ist, wenn wir bei der osteopathischen Arbeit neben anderen Körperrhythmen auch bewusst die AAB einbeziehen.
In der Osteopathie ist der Atem oft der erste Rhythmus in einer eingeschränkten Region, der sich bei der Therapie ausdrücken kann. Die AAB kann den jeweiligen Raum neu erweitern. Dem können dann andere Körperrhythmen, beispielsweise Stoffwechsel bedingte Rhythmen, folgen. Selten ist es umgekehrt.

Unbewusst arbeitet wohl jeder Osteopath mit der AAB, weil ohne das Mitgehen mit der Atmung keine Synchronisierung und dadurch auch keine Beeinflussung des Patienten möglich ist. In jedem Kontakt kommt es somit immer auch zu einer Beeinflussung der Atmung.

Die Atmung ist die einzige Vitalfunktion des Menschen, die sowohl willkürlich als auch unwillkürlich eingesetzt werden kann. Sie stellt damit eine Schnittstelle zwischen Unbewusstsein und Bewusstsein dar und wird nicht zuletzt von vielen Körper- sowie Psychotherapeuten genutzt, um über die Beeinflussung der Atemführung eine neue Wahrnehmung des Körpers oder eine veränderte Gefühlslage bei dem Patienten zu bewirken.

Bewusst vom Therapeuten eingesetzt, ist es vergleichsweise einfach, mit der AAB zu arbeiten, da sie über die Bauchbewegung des Patienten sichtbar ist. Auch wenn sie in anderen Körperregionen zunächst nicht ohne weiteres zu spüren ist, kann sich der Therapeut immer wieder an dieser Bewegung orientieren.

Wie wirkt sich die Atembewegung auf den Körper aus?

In Ruhestellung befördern wir durch die Atembewegung 12- bis 14-mal pro Minute etwa einen halben Liter an Gas in die Lunge hinein und wieder aus ihr heraus. Dabei erweitert sich der Brustkorb mit Hilfe der Atemmuskeln und mit dieser Bewegung auch passiv die Lunge mit ihren Atemwegen. Alle anderen Körperstrukturen folgen der  Atembewegung und erweitern damit dreidimensional die Pleurahöhle und den Raum, in dem die Atemwege liegen. Aktiv an der Atembewegung beteiligt ist das parietale System mit Wirbelsäule, Becken und Schädelbasis, welches sich bei der Einatmung vertikalisiert und bei der Ausatmung in einer Rückbewegung wieder zusammenzieht. Die Extremitäten folgen der Ein- und Ausatmung mit einer Außen- und Innenrotation. Ohne diese „Mitbewegung“ kann das Zwerchfell sich nicht nach unten bewegen und der Kehlkopf nicht nach oben; die Pleurahöhle, und damit die Lunge, kann sich nicht genügend erweitern oder zusammenziehen.

Diese beschriebene „Mitbewegung“ macht es erforderlich, einen genaueren Blick auf die Bindegewebsstrukturen des Körpers und die durch diese Strukturen gebildeten verschieden Körperräume zu werfen.

Tatsächlich verlangt die AAB nämlich eine Vergrößerung des inneren Körperraums. Von außen ist diese Bewegung normalerweise kaum sichtbar, mit Ausnahme bei pathologischen Zuständen. Diese innere Ausweichbewegung ist nur möglich, wenn die Organe in den einzelnen faszial abgetrennten Körperräumen eine Gleitbewegung vollziehen können.

So bewegen sich insbesondere die Organe je nach ihrer Lage und ihrer Einbettung in die Bindegewebsstrukturen unterschiedlich. Diese Variabilität der Eigenbewegung wird durch die Bildung von Körperhöhlen wie der Perikard-, der Pleura- und der Peritonealhöhle ermöglicht. Die zugehörigen Körperhöhlenfaszien bilden doppelte Umhüllungen um die Organe. Durch diese Umhüllungen können die Organe bei der AAB gegeneinander gleiten. So bewegt sich jedes Organ auf seine eigene Weise. Das ist auch möglich, weil die Organe nicht direkt mit den großen Gefäßen wie Aorta oder V. cava oder mit dem vegetativen Nervensystem verbunden sind. Sie werden versorgt durch lange Gefäßzügel aus dem retroperitonealen Raum.
Der Retroperitonealraum, der hinter den Körperhöhlen wie der Perikard-, der Pleura- und der Peritonealhöhle liegt, hat seine ganz eigene fasziale Umkleidung. Diese Umkleidung steht in Verbindung mit dem Beckenraum und dem Raum der Halswirbelsäule und vollzieht bei der AAB eine eigene Bewegung gegenüber den vorderen Körperhöhlen. Diese Bewegung lehnt sich an das parietale Systems an. Der retroperitoneale Raum wird neben dem Zwerchfell über den Beckenboden erweitert. Beckenboden und Mundboden sind Atemmuskeln, die zusammen mit dem Zwerchfell die Pleurahöhle dreidimensional erweitern. Bei den letzten zwei Dritteln der Ausatmung verengt der Beckenboden gemeinsam mit den Bauchmuskeln diese Höhle wieder.  
Schließlich wird auch das in der Dura eingebettete Nervensystem mit  Gehirn und Rückenmark durch die AAB bewegt. Allerdings kann dieses System besser über andere Körperrhythmen in seiner Ausbreitungsmöglichkeit erspürt und beurteilt werden. Doch ohne die Nasen- und Nebenhöhlenatmung schwingt die Schädelbasis nicht.
Besser verständlich wird dieser komplizierte Aufbau der Bindegewebsräume aus ihrer embryologischen Entwicklung heraus. In der 3. bis 4. Schwangerschaftswoche bildet sich der Körperhöhlenschlauch im Mesoderm des Embryos. Durch das starke Wachstum des Ektoderms krümmt sich der Embryo und der Körperhöhlenschlauch gelangt in die Mitte des Embryos. Er umschlägt das Herz und gibt der Lunge wie dem Darmrohr einen Raum, in den diese Strukturen wachsen können.

Neben diesem formgebenden Aspekt wird das Bindegewebe heute als ein dreidimensionales Kommunikationsnetz angesehen. Alle Teile dieses Netzes umhüllen nicht nur die Körperstrukturen und geben ihnen damit die Möglichkeit einer Eigenmobilität, sondern das Netz hat darüber hinaus die Fähigkeit zur Kommunikation in sich und nach außen hin mit anderen Systemen. Das Bindegewebe gilt somit heute als ein Integrationsorgan von vergleichbarer Bedeutung wie das Nervensystem.
So stehen auch die verschiedenen Körperräume, die durch das Bindegewebe gebildet werden, über die AAB in diesen Strukturen in Kommunikation miteinander. So lässt sich beispielsweise durch eine Verbesserung der AAB des Gesichtsschädels und eine dadurch erreichte Mobilisierung des Mundbodens auch eine veränderte Mobilität des Beckens mit einem freieren Beckenboden erzielen.

Was bedeutet nun die AAB für die Arbeit des Osteopathen, der die erläuterte Funktion der Bindegewebsstrukturen des Körpers kennt? 

Je genauer der Osteopath weiß, wie die AAB den Körper bewegt und wie die Atmung das bindegewebige Netz beeinflusst, desto besser kann er dieses Wissen bei seiner osteopathischen Arbeit einsetzen.
Eine Mobilitätsverbesserung der Körperstrukturen entsteht mit einer besseren AAB.

Nutzt der Osteopath die AAB bei seiner Therapie begleitend, um die Ausweitung der Atemräume zu verstärken, schafft er optimale Voraussetzungen, um die Versorgung des Gewebes zu verbessern.

Literatur:

    Atemausbreitung

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